Waiting For The Water To Come

ALEXANDER WILMSCHEN, KURATOR KESTNER GESELLSCHAFT, HANNOVER
Lucila Pacheco Dehne - Paula Modersohn-Becker Nachwuchspreis Katalogtext

Auf strömendes Wasser zu warten, es zu überqueren und sich als Mensch seiner Naturgewalt ergeben zu müssen, sind Folgen des Umweltwandels und Auslöser globaler Unruhen. Inmit- ten der Meere entstehen und verschwimmen Staatsgrenzen, gleichzeitig einigen sie uns in der Abhängigkeit von ihren Ökosystemen und Ressourcen. Zwischen Kolumbien und Deutschland befindet sich der Atlantische Ozean, der die Heimat der Vorfahren von Pacheco Dehne verbindet. In der Videoarbeit I‘m Tired Of Choosing, So I‘ll Take The Middle (2021) wandert die Künstlerin

als edler Fisch kostümiert entlang der Brandung, bevor sie nach einem Fischtelefon und von Gezeiten verschliffenen Silbermünzen aus einem mit Algen überquellenden Koffer greift, um den Preis des Meeres zu begleichen. Für sie der Wegzoll, bevor sie ins Wasser hinabsteigt, als Mittelweg in fremde Gewässer unter Staatsgrenzen hindurch. Im Fischwerden kann für sie alles Unerwünschte vom Land zurückgelassen werden – wie die Grenzen zweier Kulturen, zwischen denen Pacheco Dehne aufgewachsen ist – und ein nationsloses Wesen mit fluider Identität ent- stehen.

Ausgehend von ihrer bildhauerischen Praxis beschäftigt sich Pacheco Dehne mit Themen und Fragen zum interkulturellen Widerstand, zur Umwelt, zu fragilen Identitäten und Fiktion. Für ihre Werke, die zumeist aus kleinteiligen Skulpturen, Videos und Texten zu Rauminstallationen zusammengesetzt sind, verwendet sie zeitbasierte und fragile Materialien. Mit Skulpturen aus Keramik, Silikon, Schwermetall, Epoxidharz und Lebensmitteln überschreibt sie Geschichten parasitär in den Raum und besetzt ihn. Pacheco Dehne inszeniert raumgreifende Installationen wie Du kannst Zähne säen, aus denen Rippen wachsen, die Nieren tragen werden (2021) und nutzt Gewächshäuser als Observatorien für ihre organisch anmutenden Werke. Ihre Gewächshäuser erinnern an verlassene Behausungen einer postapokalyptischen Welt, die mit neuen Werk- zeugen für ein anderes Verständnis der Umwelt und Menschheit konstruiert wurden. Die nach dem Verschwinden des Menschen zurückgelassenen Dinge wie Schlüssel, Zahnbürsten, Löffel, Brotscheiben, Münzen und Samenkörner – bei Pacheco Dehne häufig Abgüsse und Keramik- skulpturen wie Kopplungsobjekte (2022) – zeugen vom körperlich bewegten Alltag persönlicher wie fremder Geschichten. Mit poetisch-politischen Texten, Wörtern, die in Gegenstände ein- geschrieben sind, berichten sie in neuen Konstellationen mit fiktiven Erzählungen von Utopien einer anderen Welt.

Die Werke Pacheco Dehnes scheinen die Ankunft des Wassers zu erwarten, seine Geschichten als Membran aufzunehmen, weiterzugeben oder ihm wie die Skulptur El campo resiste (2022) Widerstand zu leisten. Mit Companions (2021 – 2022) erschafft sie eine fortlaufende Werkreihe von Schuhpaaren, die Pacheco Dehne als emotionale Begleiter*innen und körperliche Grenz- gänger*innen zwischen Naturphänomenen, menschlichem und sozialem Raum beschreibt. Resistent gegen Umwelteinflüsse und gleichzeitig naturverbunden, scheinen sie eine Symbiose zwischen Menschen und Natur zu suchen. Die Bedeutung von Essen, seiner Zubereitung und dessen politischer Dimension zwischen den Kulturen, somit das Freistellen von Identitäten und nationaler Grenzen beim Kochen, erforscht Pacheco Dehne heute in Rauminstallationen wie Eating is a Way of Solidarity (2021) und in ihrer Einzelausstellung To All My Roaring Bodies, the Seeds and the Mountains (10/2022–01/2023) in der Kestner Gesellschaft Hannover.